Die Kulturwissenschaftlerin stellte ihr neues Buch „Identitti“ vor
Die Identitätsdebatte – im öffentlichen Diskurs ist sie seit Monaten ein Dauerbrenner. Dass man die Frage nach Identität und die mit ihr verbundenen Konzepte auch mit einer großen Portion Humor verhandeln und darüber hinaus auch noch enttabuisieren darf, praktiziert die Dortmunder Kulturwissenschaftlerin, Literaturkritikerin und Autorin Mithu Sanyal seit längerer Zeit äußerst erfolgreich. Bereits 2009 sorgte sie mit einer kulturgeschichtlichen Abhandlung über das weibliche Genital der Vulva als dem unsichtbaren Geschlecht nicht nur in Wissenschaftskreisen für Aufmerksamkeit. Danach richtete sie ihr Augenmerk auf weitere Phänomene, in denen sich jene alte Regel zeigt, dass im gesellschaftlichen Bewusstsein und Leben nicht ist, was keinen Namen hat oder was gerade durch Sprache fixiert wird. So machte Mithu in weiteren Veröffentlichungen ebenso Sexismus wie sexualisierte Gewalt oder den Begriff des Opfers zu zentralen Themen. Nach zahlreichen Aufsätzen und Artikeln über verschiedene, global aufzufindende Identitätskonzepte und ihre Auswirkungen legte die Kulturdenkerin nun vor wenigen Monaten ihren ersten Roman vor: „Identitti“, eine rasant erzählte und dialogreiche Geschichte aus der Ich-Perspektive einer deutsch-indischen „Woman of Colour“ namens Nivedita Anand, deren Idol Dr. Sawaswati, ihres Zeichens Professorin für postkoloniale Theorie, sich als weiß entpuppt.
Ich lüge, wenn ich Ich sage
Im Rahmen des Mannheimer Festivalsommers „Kultur in the City“ las die 50jährige nun Passagen aus „Identitti“ und man bedauerte fast, dass es nicht mehr Stellen waren, die Sanyal vorlas, auch wenn der Abend durch die gezielten Fragen von Gastgeber Yilmaz Holtz-Ersahin eine kurzweilige Struktur erhielt. Entwaffnend gab der Leiter der Mannheimer Stadtbibliothek nach gut einer Stunde zu, das er ebenfalls jenen Prozess in sich in Gang gesetzt hatte, den man auch stillschweigend in sich selbst als Zuhörerin oder Zuhörer dieser gut besuchten Outdoor-Veranstaltung beobachten konnte. Nämlich die Suche nach Antworten darauf, wie man seine eigene innere Identität beschreiben würde. „Ich würde mich als Rheinländer bezeichnen mit kurdischen Wurzeln, türkischem Stamm, deutschen Ästen und französischen Früchten“, so Holtz-Ersahin schließlich. Man muss plötzlich an die eigene Friseurin denken, die, in Deutschland geboren als Kind türkischer Eltern und fast der ganzen Verwandtschaft in Paris an jedem Ort als die Andere betrachtet wird: in Paris und in der Türkei als die Deutsche und in Deutschland als die Türkin. Wenn ich Ich sage, lüge ich über meinen Platz, so die Protagonistin an einer Stelle im Roman in ihrem von ihr betriebenen „Identitti“-Blog. Die Frage, wer Mithu selbst sei, stellte Holtz-Ersahin gleich zu Beginn.
Woher kommst Du und wer bist Du?
Mithu Sanyal erzählte sodann von ihrem indischen Vater, dessen Sprache sie aber nie lernte, ihrer polnischen Mutter und ihrem eigenen Aufwachsen in Deutschland in Düsseldorf-Oberbilk. Ihre Romanheldin lässt sie im Vergleich dazu eine deutsche Mutter mit polnischen Wurzeln namens Birgit Schimanski haben. Diese konnte, so eine der lustigsten Passagen im Roman, nicht damit aufhören darauf hinzuweisen, dass der berühmte Tatort-Kommissar Horst Schimanski aus den 1980er ja kein Deutscher gewesen sei und dass ihre Generation noch echten Rassismus erlebt habe im Vergleich zu dem heutigen „Sonnenschein“-Rassismus, den ihre gut ausgebildeten Söhne und Töchter im Alltag erführen.
Rassenfrage und Klassenfrage gehören zusammen
Auch aus diesem Grund ist dieser Abend wertvoll, wird doch deutlich, dass es Sanyal, bei aller humoristischen Zuspitzung, um die Bewusstwerdung strukturellen Rassismus geht, der sich in den verschiedensten Bereichen – von der Medizin über die Bildung bis zum Umgang mit kirchlichen oder touristischen Orten – aufzeigen lasse, wie sie detailreich erzählt. Gleichzeitig weiß sie, und dieser entscheidende Satz fällt nach gut einer Stunde: „Wir haben lange die Klassenfrage ohne die Rassismus-Debatte geführt. Nun diskutieren wir Rassismus ohne die Klassenfrage, obwohl beides zusammengehört und im Grunde auf die Kapitalismus-Kritik zuläuft“, so Sanyal, die, das sagt sie zum Schluss nochmals, weg möchte vom „gefühlten Rassismus“. Vieles scheint an diesem Abend von dem umfangreichen Wissen Mithu Sanyals über Thesen und Theorien auf, auch von ihren Forderungen an die Gesellschaft in Deutschland, sich in vielem zu erweitern. Gleichzeitig vermischte sich an diesem Abend alles: Sanyals Roman, ihre Hauptfiguren, die Konflikte, die sie erleben, das globale Wissen der Autorin und ihre gesellschaftspolitischen Äußerungen und Erfahrungen. Am Ende wünschte man sich, es hätte mehr Zuspitzung und Schärfung gegeben um den Roman und seinen theoretischen Hintergrund besser zu verstehen.
Autorin: Alexandra Karabelas. Foto: Guido Schiefer, freundlicherweise zur Verfügung gestellt vom Hanser Verlag. Artikel erschienen: 20.08.2021 in der Rheinpfalz
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