John Cranko und Kenneth MacMillan – man muss beide Namen gleich zu Beginn nennen, wenn es darum geht, die von kaum enden wollendem Applaus und Standing Ovations zum Abschluss gebrachte Erstaufführung von MacMillans „Mayerling“ beim Stuttgarter Ballett zu würdigen. Jugendfreunde, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gemeinsam die Ballettschule des Sadler´s Wells besuchten und im Anschluss Mitglied des Royal Ballet unter Leitung von Ninette de Valois wurden, hatten sich Cranko und McMillan zeitlebens in höchster Form gefördert. MacMillans Werke bildeten von Anfang an eine wichtige Säule im Stuttgarter Repertoire, wie es Cranko als Direktor ab 1961 entwickelte. Nach Crankos Tod schuf er zu seinem Andenken 1973 das berührende „Requiem“. Dass Tamas Detrich sich in seiner ersten Spielzeit als Intendant nun einen unglaublichen Traum realisierte und MacMillans Meisterwerk „Mayerling“ aus dem Jahr 1978 dem Stuttgarter Ballett einverleibte, kann nicht nur als herausragendes Tanzereignis der Spielzeit gewertet werden, sondern auch als programmatische Stärkung des Stuttgarter Arbeitsfeldes „Handlungsballett“, und zwar im Bewusstsein seiner Geschichte im 20. Jahrhundert. Denn nicht nur die stete Neuformulierung des Formats über Neukreationen, wie sie in Stuttgart, aber auch andernorts selbstverständlich praktiziert wird, ist gefragt, sondern gerade auch das Wieder-Erinnern und Vergegenwärtigung vergangener Meisterwerke – um sich als langjährig bestehende Institution zu reflektieren, den Bestand gezielt zu erweitern, aber auch und vor allem um Tänzer*innen wichtige Plattformen zur Weiterentwicklung zu geben. Letzteres war bei der Stuttgarter „Mayerling“ –Premiere ungeheuer spannend zu beobachten. Wie würden sie, vor allem die herausragenden und für ihre schauspielerischen Fähigkeiten bekannten Solist*innen, sowohl mit dem düster-kaputten Thema McMillans in „Mayerling“ zurechtkommen, dem doppelten Selbstmord eines emotional total vernachlässigten und misshandelten europäischen Elitezöglings aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der der arme Sisi-Sohn Kronprinz Rudolf (1858 – 1889) ja war? Wie würden sie mit
McMillans kalt-kühler, bestechender wirkender Bewegungssprache zurechtkommen, wo sie Crankos „wärmere“ Sprache sprechen, in der jedes „Fühlen“ und „Sprechen“ zum Tanz geworden ist? McMillan arbeitet viel mehr mit Passagen der Pantomime; öfter sind Tanz und das Vorantreiben der Handlung voneinander getrennt. Das gesamte Bewegungsgeschehen, der Fluss der Choreografie hat so eine öfter in sich gebrochene Rhythmik; das Werk gleicht, auf der Bewegungsebene, so eher einer massiven, zerklüfteten, seelischen Felsenlandschaft, während sich Crankos choreografischer Gesamtfluss eher als hügelige Landschaft umschreiben ließe. Auch führt McMillan die Bewegungen sowohl im Solo als auch im Pas de deux, die als höchst anspruchsvoll gelten, spitzer und enger um den Körper, d.h. die Energie bleibt um den Körper gebündelt, was zur Weite des Raumes einen spannenden Kontrast ergibt. Nahezu waghalsige Hebungen, bei denen die Frau wie in Spiralen um den Körper des Mannes von unten bis über den Kopf oder andersherum geschwungen, gar geworfen wird,wechseln sich ab mit nahezu skulpturalen, spannungsvollen Formgebungen, in denen die Körper an- oder ineinander verharren, um im nächsten Moment von der Körperfläche des einen das über ein gestrecktes Bein auszustoßen. Überhaupt Körper: Er steht, erzählt vom Ausgangspunkt der malträtierten, egozentrischen Psyche Rudolfs, im Fokus des Werkes.
Die Sexualität wird als gar einzige Möglichkeit zu kommunizieren, durchexerziert, und sei es, um Widerwillen, Macht, Sehnsucht nach Kontakt oder nach der eigenen Auslöschung auszuüben. Friedemann Vogel, der zusammen mit Alicia Amatriain, aber auch Elisa Badenes oder Anna Osadcenko zu einem der begnadetsten Tänzerschauspieler geworden ist, den die internationale Tanzwelt hat, nahm die Herausforderung an und durchwanderte so intensiv den zunehmenden Verfall der Figur, dass es einen fröstelte. Beängstigend fast die Vergewaltigungsszene mit der ungeliebten jungen Ehefrau, Kronprinzessin Stephanie, umwerfend getanzt von Diana Ionescu; die Zusammenkünfte mit einer auf Augenhöhe befindlichen Todesgeliebten Mary Vetsera, die Elisa Badenes nicht unerschrockener hätte tanzen können, und die ständigen Begegnungen mit der durchtriebenen Cousine Gräfin Larisch, als die Alicia Amatriain einmal mehr ihr beeindruckendes Talent entfachte, bis in jede Fingerspitze, einem Lachen, einem Blick eine komplexe Menschenfigur lebensnah zu zeichnen. Bleibt: Das Stuttgarter Ballett als Akteur, als Kollektivkünstler, als Familie. Detrich hatte fast alle , die noch irgendwie gehen können, mobilisiert, um dieses cineastisch inszenierte Drama auf die Bühne zu bringen. Und indem die charismatische Marcia Haydée, der unverwüstliche Egon Madsen, die trotz ihrer über 90 Jahre eine jugendliche Aura ausstrahlende Georgette Tsinguirides, die grandios eine Kaugummi kauende Zuhälterin aus verkörpernde Melinda Witham, die feine Sonia Santiago die Bühne bevölkern, geriet dieser „Mayerling“ zu einer Aussage über die Kunst ganz anderer Art – dass sie ein für den Menschen wichtiges, lebenslanges Projekt ist. Wie kein anderer stand dafür Jürgen Rose Pate, Crankos Leib- und Magen-Ausstatter, der mit knapp 80 Jahren nochmals in die Bresche gesprungen war und diesen Stuttgarter „Mayerling“ innerhalb eines dreijährigen Arbeitsprozesses mit einem so magisch wie edlen Kostüm- und Bühnenbild ausgestattet hat, dass sich allein nur deswegen der Besuch dieses Meisterwerkes lohnt.

Mayerling Chr.: Kenneth MacMillan
Tänzer/Dancer: Miriam Kacerova, Friedemann Vogel © Stuttgarter Ballett
HPK 08.05.2019
Text: Alexandra Karabelas, erschienen in der Juni-Ausgabe DANCE FOR YOU MAGAZINE 2019.
Neueste Kommentare