Seit seiner Geburt am 25. Juni 1910 in der Pariser Oper bildet das Ballett „Der Feuervogel“ eine der reizvollsten künstlerischen Plattformen für all jene, die das Experiment wagen. Bereits seine Schöpfer, Igor Strawinsky und Michel Fokine, der das Libretto auf der Basis alter russischer Volksmärchen zusammengestellt hatte, gingen neue Wege. „Ich habe seit Feuervogel viele Ballette choreografiert, aber nie wieder habe ich so eng mit Strawinsky oder einem anderen Komponisten zusammengearbeitet wie für diese Produktion“, erinnerte sich Fokine Jahre später. „Die Arbeitsweise war anders als gewohnt: Ich wartete nicht auf den Komponisten, der mir die fertige Musik gab. Strawinsky besuchte mich mit den ersten Entwürfen und Grundideen, er spielte sie für mich, und ich zeigte ihm die Szenen. Auf meine Bitte änderte er seine nationalen Themen in kleinere Phrasen, die mit den einzelnen Gesten und Posen korrespondierten“.
Fokine, der heute als erwiesener Erneuerer des zu jenen Zeiten technoid und stumpf gewordenen Balletts Anfang des 20. Jahrhunderts galt, realisierte so rasch seine große Vision. Er wollte ein Ballett zu schaffen, in dem Tanz, Musik und Ausstattung erstmals zu einer sinnlichen, ausdrucksstarken Einheit verschmelzen. Jede Bewegung, der ganze Körper des Tänzers, sollte, getragen von melodisch und atmosphärisch kongenial passender Musik, lesbar machen, wovon erzählt wurde. Sowohl die äußere Handlung als auch vor allem die inneren Gefühlswelten sollten so allein über die getanzte Bewegung erfasst werden können. Musikalisch und choreografisch erforderte dies eine sehr genaue Charakterisierung der einzelnen Hauptfiguren über das Körper- und Bewegungsbild. Fokine ging an diesem Punkt den damals revolutionären Schritt, nur die Rolle des Feuervogels im Spitzenschuh tanzen und alle anderen weiblichen Rollen barfuß auftreten zu lassen. Auch kontrastierte er die weiten, raumgreifenden Bewegungen, die er der Tänzerin des Feuervogels, Tamara Karsawina verliehen hatte, mit einem Konvolut an eckigen, wuchtigen und stampfenden Bewegungen, mit den er den Zauberer Kaschtschei zu Strawinskys dunklen, chromatischen Partien typisierte. Das Zusammenspiel von Solotänzern und Gruppe gestaltete er interdepent. Sowohl die Solist*innen als auch die Gruppe sollten gleichermaßen expressiv sein und das innere und äußere Geschehen des jeweils anderen mit ihren Bewegungsmustern spiegeln.
Manchem befremdlich scheint heute der damalige Impuls, mit „Der Feuervogel“ vor allem ein folkloristisches Ballett zu schaffen, das russische Kunst in Europa bekannt machen sollte. Das war das erklärte Ziel jener Künstler*innen, die mit Fokine und Strawinsky zusammenarbeiteten, so der Impresario Sergei Dhiagilev oder der Bühnen- und Kostümbildner Léon Bakst. Sie stammten alle aus Russland und transformierten sich nach der Uraufführung von „Der Feuervogel“ unter dem Namen „Ballets Russes“ zur ersten freien Tanzkompanie Europas.
Viele Choreografen haben in den letzten hundert Jahren das „Feuervogel“-Ballett neu interpretiert, seien es George Balanchine (1949), John Cranko (1964), John Neumeier (1970) oder Uwe Scholz (1983), um nur einige zu nennen. Auch Guido Markowitz geht neue Wege – mit einer spannenden Kehrtwende: Neben dem Feuervogel tanzt auch die junge Frau auf Spitze; beiden Tänzerinnen setzt er ein konsequent zeitgenössisches Bewegungsbild entgegen, ohne ihnen den Gestus des modernen Tanzes zu nehmen. Vielmehr fließen die Stile und Techniken ineinander. In den jeweiligen Duetten und im Verhältnis der Solotänzer zur expressiv agierenden Gruppe führt diese Herangehensweise zu einer neuen Verschmelzung unterschiedlicher Bewegungsansätze – dem modernen klassischen Tanz und dem von Flows und rasanten Bewegungsflüssen geprägten contemporary dance. Die emotionalen Zustände, in die alle Protagonisten jeweils eintreten, können klar profiliert und im BNezug aufeinander dargestellt werden. Auf diese Weise tritt allein über die Körperbewegung die Psychologie des Geschehens stärker in den Vordergrund; das, was sich die einzelnen Protagonisten antun, um was sie kämpfen, was sie als ihre Mission empfinden und wie sie sich befreien, tritt jeweils als starkes energetisches Moment ins Zentrum der Aufmerksamkeit und erfüllt Fokines Vision eines „kollektiven Körpers“. Markowitz´“Feuervogel“ hat so die Kraft, zu einer neuen Metapher zu werden für grundlegende Prozesse von Zerstörung und Erneuerung im Sinne des Guten.
Wusste Léon Bakst vor über hundert Jahren beim neuen „Feuervogel“-Ballett seinen ganzen Sinn für Opulenz, Farben und Ornamente zu entfalten, so ist es heute der Stuttgarter Medienkünstler Philipp Contag-Lada, der mittels gigantischer Videoprojektionen eine zum White Cube umgestaltete Bühne in einen hybriden Ort der Transformationen verwandelt – auf dass die Zuschauer mit dem Feuervogel am Ende des Balletts in die Weiten davonfliegen.
VERWANDLUNGEN – DER FEUERVOGEL/ METAMORPHOSEN
Ballett von Guido Markowitz, Theater Pforzheim nach Motiven von Ovid
Musik von Igor Strawinsky und Philip Glass
Uraufführung: 26. Januar 2019, Theater Pforzheim, Großes Haus
Inszenierung und Choreografie – Guido Markowitz
Bühne und Videodesign – Philipp Contag-Lada
Kostüme – Marco Falconi
Choreographische Assistenz – Damian Gmür
Dramaturgie – Alexandra Karabelas
I. DER FEUERVOGEL*
Musik: Igor Strawinsky, „Der Feuervogel“. Ballettsuite für Orchester (1945)
OVIDE – VERWANDLUNGEN
Musik: Igor Strawinsky, „Dumbarton Oacks“. Konzert in Es-Dur für Kammerorchester (1937/1938)
METAMORPHOSEN
Musik: Philip Glass, „Metamorphosis“ aus „Solo Piano“ (1989).
INHALTSANGABE* Ein Zaubergarten. Es ist der Ort des Magiers, der dort sein Unheil verübt. Er hält eine junge Frau gefangen, an deren Schönheit und Energie er sich festsaugt und die er immer wieder mit seinen Künsten willenlos macht. Auch andere Wesen hat er in seine Gewalt gebracht. Sie stellen das von ihm begangene Unheil dar. Der Zaubergarten ist auch das Reich des Feuervogels. Er wacht über ihn und vereint das Große und Gute in seinem Wesen. Da verirrt sich ein Mann in den Zaubergarten. Unerwartet stößt er auf die junge Frau und verliebt sich in sie. Der Feuervogel möchte die junge Frau vor dem Eindringling schützen. Überrascht und verärgert versucht der Mann, den Feuervogel zu fangen. Erst nach einer gewissen Zeit erkennt der Mann die Größe und Macht des Feuervogels. Er und die junge Frau begegnen sich. Sie verlieben sich ineinander. Da erscheint der Magier und trennt die beiden. Aufgebracht und seiner Macht gewiss, dominiert er die junge Frau erneut, bis sie kraftlos zu Boden sinkt. Auch der Mann entgeht der Macht des Magiers nicht. Angefüllt mit der Lebensenergie seiner Opfer kommt der Magier zur Ruhe. Der Feuervogel erscheint. Er befreit den Mann. Auch die Wesen befreien sich. Ein immer größer werdendes Feuer ist zu sehen. Die Wesen stoßen den Magier ins Feuer. Die ganze Welt brennt. Aus der Asche steigt neue Leidenschaft auf. Die Liebenden sind vereint.
* Das Libretto der Uraufführung im Jahr 1910 sah zwei Bilder vor. Das erste Bild zeigte einen Zaubergarten mit einem Baum mit goldenen Äpfeln, auf der Seite eine Mauer, im Hintergrund der Palast des Zauberers Kaschtschei. Kaschtschei ist eine bekannte Gestalt in der russischen Mythologie. Wörtlich bedeutet sein vollständiger Name „Der Unsterbliche“ oder „Der Todeslose“. Er verzauberte der Sage nach 13 Prinzessinnen, unter ihnen die schöne Zarewna. Sie erzählte dem Prinzen Iwan Zarewitsch, der auf der Suche nach dem Feuervogel nachts mit einer Armbrust bewaffnet den Zaubergarten betreten und sie erblickt hatte, von Kaschtscheis Unwesen. In dem Moment war ein Sturm aufgezogen. Die Prinzessinnen liefen in Kaschtscheis Palast zurück; die Wachen des Zauberers nahmen den Prinzen gefangen und führten ihn zum Verhör. In seiner Not rief Iwan mit einer Feder den Feuervogel herbei. Der Feuervogel hatte sie ihm geschenkt. So erschien der Feuervogel und stachelte das ganze Gefolge Kaschtscheis zu einem orgiastischen Tanz auf, bis alle zu Boden sanken. Danach teilte der Feuervogel Ivan das Geheimnis des Zauberers mit: ein Ei, das in einem Kästchen im Wunderbaum versteckt sei. Iwan holte ddas Kästchen und zebrach das Ei. Kaschtscheis Reich ging unter. Im zweiten Bild empfingen die Iwan und Zarewna die insignien der Macht und herschen fortan über die zum Leben erweckten Menschen.
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