Wie sehr diese schlichte Wahrheit zutrifft, war zur Eröffnung des Internationalen Ludwigshafener Festivals „Nach Athen!“ zu sehen und vor allem zu spüren. Die griechische Choreographin Patricia Apergi schuf mit „Cementary“ ein wichtiges, künstlerisches Dokument dessen, was unzählige Menschen ihres Landes seit der immer noch andauernden Staatsschuldenkrise erleben. Die Verarmung und Verwahrlosung vieler, der Verlust von Zukunftsglauben und Hoffnung, aber auch das Erlebnis, fast irre Überlebensstrategien zu entwickeln, kennzeichnet das Leben von Menschen in jenem Land heute, das von den Göttern die Sonne, das Meer und die Mythen geschenkt bekommen hat. Am eindrucksvollsten ist das glasklare Körper- und Bewegungsbild, das Apergi schuf, in Kombination mit einem realistischen Kostümbild. Ilias Chatzigeorgiou, Nondas Damopoulos, Chara Kostali, Giorgos Michelakis, Ioanna Paraskevopoulou und Eva Georgitsopoulou tragen
wie obdachlos gewordene Menschen mehrere Kleidungsstücke übereinander oder einen Overall, und sie tanzen mit gekrümmtem Rücken, oft seitlich vorgereckten Kopf und auffallend kraftlosen Händen. Die Bewegung sucht ihren Weg vom Brustkorb aus durch die Ellenbogen, kreiert eine Geste in den Raum, zum anderen, zum Publikum und zieht sich dann wieder zurück. Im Solo oder unisonso. Die Tänzerinnen und Tänzer atmen dabei. Rhythmisch. Laut. Schnaufend, mechanisch wie Blasebälger. Psychosomatisch wie Betroffene nach Panikattacken oder wenn kein Raum zum Atmen bleibt. Man kann sich dem kaum entziehen. Man fühlt mit, wie sehr die Menschen in Griechenland auch Demütigung und Resignation erlebt haben, und man fängt an, mit zu atmen und das Leid zu teilen.
Seine Klasse gewinnt dieses besondere Werk aus der Beinarbeit und dem Umgang mit der Gruppe im Raum. Angelehnt an die Grundprinzipien des klassischen Tanzes, arbeiten die Tänzerinnen und Tänzer aus der sogenannten, ersten oder dritten Position heraus. Mal stehen sie in Paaren beieinander, mal solistisch, mal zum Pas de trois oder Pas de Quatre geordnet. Fast spektakulär wird die Formensprache des klassischen Tanzes aufgerufen und so umgeformt, dass das Nichtmehrtanzenkönnen als Aussage entsteht. Kaum verlässt mehr bei der Arabesque das Bein den Boden. Das Tragen eines Körpers durch die anderen wird zur mühsam, von Körperknick zu Körperknick sich hangelnden Etappe. Dazwischen: klare Bilder auch der Freude. Das gemeinsame, wenn auch irre Lachen. Erinnerungen an ausgelassenes Spiel miteinander. An Gemeinschaft. Musikalisch trägt oft die Geige zusammen mit E-Gitarre und elektronischen Beats das Lied der Klage dieser Untoten. „Cementary“ – das Bild des Friedhofs verdichtet sich mit zunehmender Dauer der Aufführung. Versucht einer so, Konstellationen mit den anderen noch einmal zu tanzen, liegen seine Mitmenschen plötzlich auf dem Boden. Wie Tote. Stärker kann man kaum Vergänglichkeit darstellen. Am Ende atmen sie Sand und Staub in die Luft. Es bestürzte zu sehen wie wenig Zuschauer im Vergleich zu den großen Tanzgastspielen sich an diesem Abend einfanden. Als sich performativ wiederholt, was in Politik und Gesellschaft zwischen Deutschland und Griechenland stattfand. Das Leiden findet wenig Gehör und Sichtbarkeit.
Autorin: Alexandra Karabelas, erschienen in der Rheinpfalz
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