Man erinnert sich noch sehr genau an die stehende Wärme nachts und den Wind, der noch vor wenigen Tagen die Gräser, Blumen und Blätter in Bewegung brachte. Man schloss die Augen und fühlte dankbar die eigene Verbundenheit mit der Natur. Butoh, ein Tanzstil, der im Japan nach Hiroshima Ende der 1950er Jahren geboren wurde, um passendere Ausdrucksformen für das Fühlen und Leiden des Menschen zu finden, beglückt den Zuschauer mit demselben Erlebnis von Verbundenheit. Die Hinterbühne des Theaters im Pfalzbau ist fast bis auf den letzten Platz gefüllt. Man erkennt schwebende Teile einer Waage, die an verschiedenen Stellen an dünnen Fäden hängen. Unverbunden, bilden sie dennoch eine Balance. Vier Männer, kahlköpfig, weiß geschminkt und in fast opulenten weißen Seidenkleidern, rascheln ins Licht. Zwei kleine Sandhügel auf dem Boden bilden ihr Zentrum. Sie setzen sich im Abstand voneinander und spreizen ihre Hände zu Blütenkelchen. Sanft wiegen ihre Oberkörper hin und her, die Arme heben und senken sich. Ein sanftes Lächeln ziert ihr Antlitz, während sie mit geschlossenen Augen nach innen zu sehen scheinen. Das hörbare Rauschen des Windes verdichtet sich um fernöstliche Klänge, die die Gruppe in die Höhe wachsen und sich an anderer Stelle im Raum vereinen lassen. Auf dem Höhepunkt ihrer wirkungsvollen Zeremonie zerstäuben sie den Sand, kreieren Spuren auf dem Boden. Das poetische, die Wahrnehmung überschreitende Bild nimmt den berührten Zuschauer für sich ein.
Butoh ist, wie er hier von einem ihrer Meister aus Japan, nämlich Ushio Amagatsu, und der von ihm vor über vierzig Jahren gegründeten Compagnie Sankai Juku, zum Saisonauftakt im Tanz am Pfalzbau zelebriert wurde, kein Tanzstil für Individualisten, Ego-Abgrenzer oder Solisten. Die Kultur von T-Shirt, Trainingshose oder durchgeknalltem Kostüm, unbeteiligtem Daher Schauen beim sich Bewegen und einem Stil „oft wie jeder will“, die der Zeitgenössische Tanz im Gegensatz zu seinen Anfängen in der Moderne heute so gerne pflegt, ist hier so weit entfernt wie die Sonne vom Mond. Butoh, tanzhistorisch ein Gegenentwurf zum traditionellen, stark kodifizierten japanischen Tanz, und kulturell eine Reaktion auf die schrecklichen Angriffs- und Kriegs-Ereignisse um 1945 sowie die mächtige Amerikanisierung der japanischen Gesellschaft, pflegt ein klar erkennbares Körper- und Bewegungsbild, oft in Stille geformt, das sich auch der Überzeichnung bedient, um einen deutlichen Ausdruck zu kreieren. Bedenkt man die aktuelle Sehnsucht vieler Menschen nach Stille, nach Empathie und nach einem differenzierten, aber bekennenden Umgang mit Emotionen, ist die Relevanz dieses besonderen Tanzes für die Gegenwart kaum mehr zu leugnen. Das Gastspiel von Sankai Juku bildet von daher einen unaufgeregten, aber programmatisch mächtig gelungenen Auftakt in die neue Saison. Sechs weitere Szenen folgen an diesem Abend. Sie machen Bekanntschaft mit Amagutus Arbeit und besonderem Verdienst, dem Butoh eine fließende Qualität verliehen zu haben. Innere Haltung und äußeres Auftreten sind zudem ungemein achtsam und würdevoll. Die Compagnie konfrontiert den Betrachter auch mit Hölle und Tod. Röcke aus grobem Stoff, auf denen sich schmutzige Spinnweben wie Reste eines Kadavers ausbreiten, sind um die Hüften geschlungen. Statt Gesichtern recken sich fratzenhafte Strukturen entgegen. Eng steht die Gruppe beieinander. Die Hände zu Krallen geformt, kreieren sie mit derselben inneren Wachheit und Bewusstheit wie am Anfang einen virtuosen Tanz des Schreckens, angetrieben von Rhythmen, die wie Schreie wirken. Das Reich der Dämonen, ein der modernen Welt ausgetriebener Gedanke, wird hier wieder spürbar. Die gelungene Dramaturgie zeigt sich anhand der rahmenden Szenen. Zwei Männer bewegen sich in Ruhe spiegelbildlich. In einer weiteren Szene ist tropfendes Wasser zu hören. Zum Schluss, nach einem grandiosen Finale aller sechs Tänzer, verbeugen sich die Künstler in einer derart würdevoll, dass man denkt: Wenn alle so miteinander umgehen würden, wäre das Zusammenleben der Menschen erheblich leichter.
Autorin: Alexandra Karabelas, erschienen in der RHEINPFALZ, Kultur Lokal am 4.9.2018
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