Harte Kost erhielt das Publikum am Eröffnungsabend des Tanzfestivals „Ulm Moves“. Maura Morales´ Tanzstück „Phädra – die Virtuosität des Leidens“ erzählte zeitlos, verdichtet und tänzerisch grandios vom Tabu, den Stiefsohn zu begehren. Das Gastspiel der in Düsseldorf lebenden Kubanerin war ein mutiger Auftakt eines Kulturfestivals, das es sich, fern der Tanzhochburgen Stuttgart, München oder Nürnberg, in Süddeutschland zur Aufgabe gemacht hat, alle zwei Jahre den Ulmern den Zeitgenössischen Tanz zu Füßen zu legen. Morales zeigte mit ihrem Stück was die Kunst des Zeitgenössischen Tanzes zu leisten vermag. So verwandelte die mehrmals ausgezeichnete Tänzerin und Choreographin ihre „Phädra“-Inszenierung durch starke, grenzüberschreitende Bilder in eine Arena. Extreme emotionale und mentale Zustände wechselten dort einander ab. In grotesker Bewegungssprache, fast wie in einem Comic, stellte sie zunächst das Familiensystem mit den jeweiligen Beziehungen aller Beteiligten vor.
Wichtigstes Requisit im ganzen Stück waren dicke Taue, die auf verstörende Weise mal als Schaukel, mal als Nabelschnur oder gar als Klettergerüst verstörend genutzt wurden und viele Assoziationsräume öffneten. Yotam Peled, ein auch in der Luftakrobatik ausgebildeter Tänzer, schlüpfte in die Rolle des Stiefsohns Hippolyt. Kurze Ewigkeiten lang schwang er sich das Seil hinauf. Ein unschuldiger Kindmann, der sich in Geborgenheit wähnte. Phädra, überragend von Morales selbst getanzt, erscheint ihm gegenüber als eine ausschließlich aus Zwängen und Sehnsüchten heraus handelnde Frau, fern jeder Bewusstheit, nie den inneren Himmel erreichend. Schonungslos spielte Morales das begehrende und besitzergreifende, dabei unempathische Wesen der Phädra aus. Immer wieder drang sie mit ihren Fingern, Haaren und Körpersäften in Hippolyt ein. Dieser weist sie, so die antiken Dichtungen von Euripides und Seneca, zurück. In Morales´ emotional extremer Interpretation tötet Phädra daraufhin hasserfüllt den Sohn. Hilflos sieht Theseus, Hippolyts Vater und Phädras Ehemann, grandios dargestellt von Butoth-Tänzer Chang Ik Oh zu. Gedemütigt – denn wie ein Hund kriecht er um Phädras Beine, während sie ihm den Platz weist – bewegt er sich auf einen kaum zu bewältigenden Schmerz zu. Nach einem unvergesslichen Solo erstarrt er. Nur sein in Schweiß gebadeter Rücken glänzt im milchigen Licht. Erst jetzt, nach über siebzig Minuten, kommt die druckvolle Soundlandschaft des live mit spielenden Komponisten und Gitarristen Michio Woirgardt, die das zuweilen kaum zu ertragende Kammerspiel durchgehend begleitet, zum Schweigen.
Ins Leben gerufen werden konnte „Ulm Moves“, erzählt der in Ulm lebende Choreograph, Tänzer und Festivalleiter Domenico Strazzeri, als sich im Jahr 2013 sämtliche tanzaffinen Häuser der Stadt sowie jene Menschen, die in ihrer Freizeit schlicht gerne tanzen, zusammenschlossen. Das Ulmer Kulturzentrum ROXY, das Stadthaus und das Ulmer Zelt vereinbaren seitdem unter Strazzeris künstlerischer Leitung das Programm. So beehren noch bis 17. Juni weitere Größen aus der internationalen Szene die schwäbische Donaustadt, so die Compagnien von Hofesh Shechter (16. Juni) und Sharon Fridman (14. und 17. Juni). Kaum entziehen kann man sich dem Sog und der Faszination deren zuletzt entstandener Tanzwerke „Hasta Dondé“, „Grand Finale“ und „Free Fall“. Diese zeigen und reflektieren in zeitgenössischer, virtuos fließender Bewegungssprache auf berührende Weise den Menschen und die Welt um ihn als fragil und wie im Fall, im Widerstand und im Vertrauen zu anderen. Außerdem auf der Gästeliste von „Ulm Moves“: Ricardo Fernando und das von ihm geleitete Ballett Augsburg (13. Juni), sowie zahlreiche Tänzerinnen und Tänzer unterschiedlicher Stilrichtungen in Ulm. Denn bei „Ulm Moves“ erhält der Besucher Gelegenheiten, mitzutanzen: Tango auf Open-Air-Milongas, Ballett, Hip Hop, Rock´n Roll oder Steptanz auf dem bereits beliebten Tanz-Parcours in der Innenstadt oder Zeitgenössische Choreographie in Workshops.
Autorin: Alexandra Karabelas, erschienen in SCHWÄBISCHE ZEITUNG und Tanznetz.de am 11.06.2018, Fotos: Klaus Handner
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