Es gibt nicht viele Tanzcompagnien, die in Europa zu den „must see“ zählen – das Nederlands Dans Theater (NDT) ist eine von ihnen. Seine Abende zeigen nicht nur beispielhaft, wie Choreographen das weltweit aktuelle Zeitgeschehen verdauen und Habitus, Selbstverständnis und Herausforderungen von heute mit eigenen künstlerischen Mitteln spürbar werden lassen. Vielmehr bieten sie auch schlicht immer wieder das Vergnügen einer kurzweiligen Werkschau prägnanter Stilistiken und Ästhetiken aus den letzten zwanzig Jahren. Dasselbe gilt für die Juniorcompagnie des NDT, dessen Gastspiel im Pfalzbau unerwartet neue Erkenntnisse lieferte. Überdeutlich wurde sichtbar, wie sich die Welt seit 1999, als Hans van Manen sein „Short Cut“ zu einem Streichquartett von Jacob ter Veldhuis kreierte, und 2015 beziehungsweise 2018, als die Stücke von Edward Clug, Marina Mascarell, Sol León und Paul Lightfoot entstanden, verändert hat.
Die Beziehungsparade eines Mannes, der nacheinander drei Grazien im Ganzkörpertrikot an der Hand führt, von denen nur die letzte es schafft, ihn selbstbewusst stehen zu lassen, wirkt in diesem Zusammenhang gewöhnlich; wie aus einer fernen Welt, in der noch keine Smartphones, Polyamorie, Digitalisierung und Gender-Fragen den Zeitgeist veränderten. Vielleicht fehlte den jungen NDT-Tänzern aber noch die innere Reife, um van Manens zeitlos schöne Bewegungssprache als Zwiesprache zwischen Mann und Frau in voller Blüte aufscheinen zu lassen.
Spannend im Vergleich dazu Edward Clugs „Mutual Comfort“. Zwei Männer und Frauen, urban und hochgeschlossen bekleidet, bewegen sich hochpräzise, scharfkantig und in wechselnden Konstellationen zu Takt, Rhythmus und Tonfolgen der bestechenden Komposition „PErpeTuumOVIA“ von Milko Lazar. Clug hat die Bewegungsfolgen, wie so oft, unterteilt. Der Bewegungsfluss ist dadurch mehrfach pointiert; das tanzende Subjekt ein Handelndes, kein der Bewegung Übereignetes. Winzige Momente voller Ironie, ehrlicher Begegnung, emotionale Augenblicke wechseln sich innerhalb des lässig-coolen Crescendo dauernden Bewegens ab. Ein jubelnder Aufschrei seitens des Publikum kommentierte diese geniale Tanzkomposition.
Noch lange nicht von derselben Klasse, aber dennoch eindrücklich schließlich Marina Mascarells Versuch über das Jetzt. Ihr „Hefty Flood“ gerät zum Lehrstück darüber, wie aktuelle Tanzkunst die Wahrnehmung herausfordert. Nur kleine Lampen, wie Glühwürmchen oder später ein Sternenhimmel, beleuchten eine aus herumliegenden Tanzteppichen geformte, wellenartige, sich bewegende, unwirtliche Landschaft. Zu hören ist ein raumgreifender, von hohen einzelnen Tönen durchdrungener, wenig melodiöser Soundteppich, der einzeln ins Mikro gehauchte Worte bis zur Unkenntlichkeit verschluckt. Aus ihr erheben sich teils fast nackte, sich fließend bewegende Kreaturen, Einzelne, sobald sie in den Fokus direkt sie anleuchtender Taschenlampen geraten. Eine Topographie der Verlorenheit tut sich auf, des Auftauchens und Verschwindens in einer alles wieder verschluckenden, trostlosen Landschaft. Man wird dieses Bildes dennoch irgendwann müde und versteht, dass es seinen Sinn am Ende dennoch aus einem grandiosen Moment gewinnt: Als Mann und Frau, getrennt duch eine Wand, auf der sich sein Körper als ihr Körper gebender Schatten abzeichnet, einen narzistischen Zwilling tanzen.
Paul Lightfoots und Sol Léons „Subtle Dust“ beschließt den Abend. Der neue Surrealismus, den die beiden im Tanz begründeten, wird in dieser verrätselten, unklaren Szenerie noch einmal mehr zum Augenschmaus. An Compagniegründer Kylián erinnernde Bewegungsflüsse, die eine ähnliche Melancholie in sich tragen, entfalten sich vor realistischen Landschaftsaufnahmen wie flammend rote, wehende Wolken, ein Neumond oder eine Graswiese. Ein Mann im Mantel, drei Männer in schwarz-weißen Zebrahosen, Frauen in schwarzen und weißen Blusen kreieren verschiedene Konstellationen, die nicht zu deuten, aber intuitiv sich ergeben haben müssen. Immer wieder muss man an „Melancholia“ von Lars von Trier denken. Ein Werk, das weit aus der Fantasie heraus geschaffen wurde und sich mit einem apokalpytischen Gedanken verbindet.
Autorin: Alexandra Karabelas, erschienen in der Rheinpfalz am 22.05.2018
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