Am Ende fehlte nur noch die Tüte Popcorn in der Hand: Am Opernhaus Zürich offenbart sich Edward Clugs Neuinszenierung von Goethes berühmter Faust-Tragödie für das Ballett als bildgewaltiges, packendes Tanzepos. Locker könnte es die beeindruckende Inszenierung wegen der gestochen scharfen Bildqualität der traumhaft vorbei ziehenden Szenen und ihres Spannungsbogens mit jeder Hollywood-Produktion aufnehmen. Schließlich kommt es selten vor, dass man in „Cliffhanger“-Manier ungläubig in die Pause geschickt wird, nachdem Faust mit seinen Avancen um Gretchen begonnen hat.
Anstatt an „Faust“ als Ballett zu scheitern – was nicht unwahrscheinlich ist, schaut man sich die ältere und jüngere Inszenierungsgeschichte des Stoffes im Tanz an – gelingt dem slowenischen Star-Choreographen Edward Clug die Balance. Er weiß sowohl vom bis heute existierenden Drama des modernen, wissenschaftsgläubigen Menschen zu berichten als auch die Liebestragödie zwischen Faust und Gretchen vor Augen zu führen. Clug braucht hierfür nicht ein einziges Mal das gesprochene Wort. Stattdessen erzählen inhaltlich komplexe, ästhetisch betörende Bilder, die auch Clugs große Ironie greifbar machen. So bastelt Mephisto seinen Pudel schnell aus schwarzem Luftballon; die Tötung von Gretchens Bruder Valentin wird als heroische Schlacht gezeigt, die sich alle Protagonisten, Popcorn essend, als Kinofilm ansehen. Fulminant setzt sich die gesamte Bilderfolge dieses Balletts aus signifikanten Körpergestiken, Bewegungsfolgen, Mimiken, Settings und auch der Musik zusammen. Denn neben der choreographisch-tänzerischen Uraufführung genoss der begeisterte Zuschauer eine musikalische Weltpremiere: Im Dialog mit Clug hatte Milko Lazar entlang des Probenprozesses eine filmreife, rhythmisch treibende Partitur geschrieben, die den sinnhaften Fluss des Handlungsballetts gewährleistet.
A propos „Handlungsballett“: Die Frage, wie er eine Geschichte in Tanzsprache übersetzen könne, ohne nur narrativ zu sein, sei für ihn als Choreograph die größte Herausforderung gewesen, berichtete Clug. Und in der Tat: Dieses „Faust“-Ballett ist Szene für Szene viel mehr als seine eigene Nacherzählung. Wer mit so großer Lust und Spielfreude wie Jan Casier, William Moore, Michelle Willems oder Viktorina Kapitonova auftritt, dem gelingt, ein ganzes Panoptikum sinnlicher und geistiger Innenwelten der einzelnen Figuren auch in ihrem Bezug zu heute aufscheinen zu lassen. Allein die Schwere des Ganges und die Beugung des Rückens, mit denen Casier, angezogen wie ein ergrauter, konservativer, sich selbst überdrüssiger Wissenschaftler, seinen Faust bereits im ersten Bild versieht, ist herrlich. Auf einen Rollstuhl voller Bücher gebeugt, schlurft er vor einem Filmausschnitt wehender Wolken über die Bühne, während diese von weißen und schwarzen Engeln mit riesigen Flügeln bevölkert wird. Überzeugend spielt Casier seinen kopfgesteuerten Faust als tattrigen, sich nie in Liebe und Leben fortgebildeten und von daher verwundbaren Herrn, der es sich dennoch nicht nehmen lässt, vor seinen Studierenden mit einem toten Jesus so lange zu experimentieren, bis dieser wieder lebt. Oscarreif dann die Darstellung Mephistos durch William Moore. Kraftvoll und nuancenreich etabliert er sich als starker Gegenspieler und Alter Ego in Fausts Welt: als ein der körperlichen Sinnlichkeit und Wollust frönender, narzistischer Zeitgenosse zieht er, emotional erkaltet, die Fäden in Fausts Leben bin hin zur unaufhaltsamen Hinrichtung Gretchens. Unerschrocken bringt Clug diesen Mephisto heute mit Schönheits-Operationen und sexuellen SM-Praktiken in Verbindung. Die Walpurgisnacht gerät zum bizarren Laufsteg monströser Anomalien. Reich beschenkt stürzt man in die Nacht.
Autorin: Alexandra Karabelas, erschienen in der SCHWÄBISCHEN ZEITUNG am 2.05.2018
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