„Die Ereignisse sind vergangen. Die Landschaft aber, in der wir spielten, lässt uns nie wieder los“. Im denkwürdigen Nachhall dieser ruhig gesprochenen Verse des 1987 verstorbenen Dichters Carlos Drummond de Andrade verglühte am Dienstagabend eine grandios getanzte Ballettaufführung des „Don Quijote“ im Pfalzbau-Theater.
Wäre ihre Choreographin nicht Marcia Haydée, müsste die Inszenierung kritischer unter die Lupe genommen werden. Denn dem choreographischen Konzept mangelte es eklatant an Bewusstsein für die Entwicklung, die das Format des Handlungsballetts in den vergangenen Jahren erlebt hat. Im eigenen Kosmos gefangen, ignorierte es zudem, welche wegweisenden Interpretationen „Don Quijote“ mittlerweile beispielsweise durch Goyo Montero erfahren hat. Bruchlos und ohne Anbindung an die Gegenwart, ließ Marcia Haydée eine harmlose Geschichte erzählen, inspiriert von den gängigen Vorlagen des Schriftstellers Cervantes, des ursprünglichen Ballettschöpfers Petipa und des Komponisten Minkus. Haydée griff außerdem auf die Farbstiftzeichnungen des 1962 verstorbenen Malers Candido Portinari zurück, der 1956 die Serie „Don Quijote“ entworfen hatte. Sie kommen in ihrer Inszenierung in Form herabhängender Vorhänge und Gassentrenner zum Einsatz. Mehr Repräsentationstheater geht nicht. Dennoch gewinnt man der große Frische, Esprit und Komik verströmenden Inszenierung neue Aspekte ab. Sie wirft vor allem ein spannendes Licht auf das hier zum Leben erweckte, komplexe Erbe der Haydée, die erst gestern ihren 81 Geburtstag feierte. Auch deswegen beehrte das Publikum die warmherzige Grande Dame des Tanzes mit lang anhaltenden Standing Ovations.
Die ehemalige, stilprägende Primaballerina, Direktorin und Darstellerin des Stuttgarter Balletts kann auf ein reiches Leben blicken. Als Muse von John Cranko hat sie mit ihrem Körper und ihrer Bewegungskunst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Tanzgeschichte geschrieben. Die von Cranko für sie kreierten und von ihr getanzten Hauptrollen in den Meisterwerken „Romeo und Julia“, „Onegin“ und „Der Widerspenstigen Zähmung“ bilden bis heute ihr inneres Bewegungsarchiv und formten ihr Inszenierungsverständnis. Das wird bei diesem „Don Quijote“ sichtbar. Fast wie bei einem privaten Quiz ließ sich bis auf einzelne Szenen exakt bestimmen, in welchem Ballett Crankos sich die von Haydée choreographierten Hebungen, Sprungkombinationen oder Positionierungen der Hauptrollen befinden. Allein der ganze erste Teil ihres „Don Quijote“ erinnerte zuweilen an eine stehen gebliebene und ewig in die Länge gezogene Marktszene, mit der „Romeo und Julia“ aus dem Jahr 1961 eröffnet wurde. Auch die Pantomime, die die Tänzerinnen und Tänzer formidabel umsetzten, kennt man in ihrer tragisch-komischen, retrospektiven Art von den Cranko-Balletten. „Don Quijote“ erwies sich so als eine Art einzigartiges Museum einer vergangenen Tanzkunst, die Laune machte. Denn Haydée tauchte den ganzen Tumult um Kitri, Basilio, Camacho, ihren Vater, Don Quijote und Basilio in spanischere Gefilde. Ihr fröhlich-munteres Nummernballett lebte von vielem: einem guten Gefühl für Timing, der wohltuenden, symmetrischen Anordnung der Gruppen im Raum und der Stärke seiner großartigen Tänzer. Allein Thamiris Prata in der Rolle der Kitri hat dermaßen viel Spannung und Energie in ihren Beinen, dass ihre sportive Eleganz bezaubert. Sprungstärke und eine berührende Genauigkeit kennzeichnen auch Cicero Gomes in der Rolle des Basilio; Anmut und Authentizität markieren Joca Antunes Entwurf des Don Quijote als unbedarften, jungen Träumer, der nicht mehr zwischen der Wirklichkeit und der Welt seiner Träume zu unterscheiden vermag.
Dass Haydee neben ihrer seit fünfzehn Jahren währenden Tätigkeit als Direktorin des Balletts von Santiago de Chile überhaupt wieder als Choreographin tätig werden würde, hatte sie übrigens Inês Bogéa, künstlerische Leiterin der Sao Paulo Dance Company, zu verdanken. Bogéa baut derzeit das klassische Repertoire ihrer weltweit tourenden Compagnie aus. Sie bat Haydée, eine eigene Version des berühmten, erstmals 1869 am Bolschoi-Theater in Moskau aufgeführten Ballettklassikers zu erstellen, die vor allem das brasilianische Publikum überzeugen sollte. Das könnte, so mutmaßt man aus der Ferne, dort gelungen sein.
Autorin: Alexandra Karabelas, erschienen in der RHEINPFALZ am 19.4.2018
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