Meine Tochter wirft einen Blick auf den Bildschirm. „Er sieht auf jeden Fall sportlich aus“, sagt sie. „Und der ist weltberühmt?“ – Ja. Und nein. In seiner Arbeitswelt, dem internationalen Bühnentanz, ist Jason Reilly berühmt. In der Welt ohne Kunst kaum. Aber wie soll man das erklären? – Als Erster Solist des Stuttgarter Balletts blickt Jason Reilly mit seinen 38 Jahren auf eine grandiose Karriere als mehrfach ausgezeichneter, international gefragter klassischer und zeitgenössischer Balletttänzer zurück. Beim Stuttgarter Ballett gilt er zu Recht als einer der außergewöhnlichsten Künstler in der jüngeren Geschichte der Compagnie. Aufgewachsen ist er in Kanada in der Millionenmetropole Toronto. Im Vergleich dazu gleicht Stuttgart einem kleinen Nest. Mein Gespräch mit Reilly darüber, weshalb und wie er heute in Stuttgart lebt, hat er in die Mittagspause gelegt. Begrüßt werde ich in der Kantine des Opernhauses von einem Gentleman in Trainingshose, Jacke und mit Stirnband über blitzenden, dunkelbraunen Augen. Ich bekenne, dass ein Gespräch, das sich einmal nicht nur um Tanz drehen soll, einem Duett gleicht, dessen Schritte und Bewegungen ich noch nicht kenne. Reilly lacht herzlich auf und sagt auf Englisch: „Kein Problem, wir können zusammenhalten und es so machen, dass es gut wird.“ Das ist auch sein Job. Doch dazu später.
Jason Reilly verließ im Alter von drei Jahren seine Ursprungsfamilie. Seine neue Familie nahm den Adoptivsohn liebevoll auf, berichtet er. Sie bildet bis heute seinen Clan, erweitert um seine leiblichen Geschwister, zu denen er irgendwann den Kontakt wieder aufgenommen hat, und seine eigene, junge Familie. Denn seit wenigen Monaten ist er stolzer Vater einer Tochter. Seine Frau Anna Osadcenko ist ebenfalls Erste Solistin beim Stuttgarter Ballett. Denkt er an sich selbst als Kind zurück, kommt ihm vor allem seine hippelige und nervöse Art ins Gedächtnis. Dass Ballett ihm helfen könnte, seinen Bewegungsdrang in Bahnen zu lenken, stellte sich heraus, als er eine seiner Schwestern zum Training begleitete. „Hier fand ich für mich etwas, für das sich lohnte, mich selbst anzutreiben und mich aus eigener Kraft vorwärtszubringen“, erzählt er.
Seinem heutigen Chef, Reid Anderson, damals Ballettdirektor des National Ballet of Canada, blieb Reillys Begabung nicht verborgen, und kaum hatte der Junge den Schulabschluss in der Tasche, ging es Richtung Flughafen ab nach Stuttgart, wo Anderson ein Jahr zuvor Intendant des Stuttgarter Balletts geworden war und bereits auf ihn wartete. Fragt man Anderson heute nach Reilly, ist der berufliche Ziehvater stolz: „Jason ist einer der einmaligsten, wertvollsten, anpassungsfähigsten und vielfältig talentiertesten Tänzer, dem ich jemals begegnet bin! Darüber hinaus ist er intelligent, fleißig, vertrauenswürdig und charmant. Obendrauf hat er ein wahnsinniges Sex-Appeal – ein Feuerwerkskörper in jeglicher Hinsicht.“ Die Euphorie, mit der Anderson über seinen Zögling spricht, ist bekannt, und berührt dennoch. Ob Reilly jemals gefühlt habe, dass er zwanzig Jahre in der Schwabenmetropole und dann auch noch in Andersons Kompanie bleiben würde? – Die Antwort kommt schnell: „Nein, nicht eine Sekunde. Ehrlich: Ich dachte, ich komme für zwei Jahre hierher und gehe dann zurück.“
Seit Monaten nun feiert Jason Reilly sein 20jähriges „Betriebsjubiläum.“ Er hat als Tänzer durchgehalten. Sein „Betriebsjubiläum“ ist auch sein 20jähriges Bühnenjubiläum. Mit Blick auf sein Pensum könnte man auch sagen: Bei einer oft 6-Tage-Woche ist er das Schlachtross des Stuttgarter Balletts. Oder modern formuliert: Einer ihrer wichtigsten Stakeholder. Und dabei in der Art der Ausübung der Aufgaben so zurückhaltend wie Frank-Walter Steinmeier in seinen besten Zeiten. Nur trägt Reilly dabei eher Strumpfhose statt Anzug. So will es der Job. Reilly, den man auf der Straße glatt für ein Modell von Urban Street Style halten würde, trägt er doch oft Wollmütze und zudem nicht nur drei Tattoos am Körper, hat hinter den Theatermauern in hohem Maße Einfluss darauf, ob das Stuttgarter Ballett seine stilistischen und ästhetischen Ziele erreicht, und das weiß er. „Ich fokussiere mich auf die jeweilige Aufgabe, die in jedem Moment gefragt ist“, so sein Ansatz.
So erhalten die Visionen zahlreicher Choreografen durch ihn erst Körper, Kontur, Struktur und Aura. Er trägt alle großen Hauptrollen des berühmten Stuttgarter Repertoires in sich. Er erweckt sie technisch und darstellerisch makellos und emotional authentisch zum Leben. Jede Vorstellung ist für ihn auch ein Ritt durch die Emotionen. Manchmal durchlebt er, wie in „Onegin“ von Cranko, die emotionale Steilkurve eines halben Männerlebens. Er darf und muss den emotionalen Reichtum eines Menschen bei seiner Arbeit zulassen. Ein Privileg, das ist ihm bewusst, das viele Arbeitnehmer in der kopfgesteuerten Arbeitswelt nicht genießen. Denn Reilly vermittelt keine Informationen. Sein Wissen ist nach außen verhüllt und innen durchlebt. Ästhetisierte Motion und Emotion. Es ist Form, Energie und Ausdruck. Bewegende Verführung. Und Fühlen. Denn er hat ziemlich gute Antennen für seine jeweiligen Partnerinnen auf der Bühne, und wieder lacht er: „Hier gilt einfach: Happy wife, happy life“.
Hinter dem lockeren Spruch verbirgt er, dass er gelernt hat wie wenige, im Tanz Körper, Stimmungen und Situationen zu lesen wie ein Tennis- oder Fußballspieler. Für mehr als 50 Choreografinnen und Choreografen hat er inzwischen in den letzten zwanzig Jahren getanzt. Hauptrollen wie „Hamlet“ oder „Othello“ wurden eigens für ihn geschaffen oder nach Stuttgart geholt. Werke aus dem Repertoire wie Maurice Béjarts kraftvoll-sinnlicher „Bolero“, bei dem er minutenlang alleine auf einem Tisch tanzt, werden auch wegen seiner Qualitäten wieder einstudiert. Aktuell arbeitet er für die nächste Premiere DIE FANTASTISCHEN FÜNF am 23. März mit den Nachwuchschoreografen Katarzyna Kozielska und Roman Novitzky zusammen. Einige Wochen zuvor verbrachte er Probentage in London. Sergei Polunin, Weltstar vom Royal Ballet, lud ihn ein, an einem freien Projekt mitzuarbeiten. „Es war beeindruckend. Außer mir waren zwölf weitere Tänzer involviert. Wir haben viel gemeinsam entwickelt. Da kamen einige außergewöhnliche Künstler mit einem großen Potenzial zusammen“.
Ist da noch Platz für anderes? – Am Abend nach all diesen durchgetakteten Tagen, freue er sich auf Frau und Kind und Hund, mit dem sie oft auf der Karlshöhe spazieren gehen, erzählt er. Ballett spielt dann keine Rolle mehr. Sie hätten das abgeschafft, berichtet er, zuhause auch noch über Tanz zu sprechen. Die Fortschritte des Nachwuchses, die kurzen Nächte oder wann sie nach Kanada reisen, seien dann die Themen ihres normalen Stuttgarter Familienlebens. Und viel ausgleichenden Sport an freien Tagen. Vor allem schwimmt er gerne.
2015 wurde Reilly vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst zum Kammertänzer ernannt. Die Auszeichnung sei wichtig für ihn. „Ich empfinde eine große Freude darüber, diese Ehre erhalten zu haben. Ich kam als Kanadier nach Stuttgart und habe so viel harte Arbeit in mich selbst und in die Kompanie gesteckt. Meine Arbeit wird gesehen und wertgeschätzt. Die Auszeichnung treibt mich an, noch härter zu arbeiten. Denn wir tragen jedes Mal viel Verantwortung, wenn wir auf die Bühne gehen. Ich arbeite dafür, das hohe Niveau und den sehr guten Namen des Stuttgarter Balletts zu garantieren.“
Bei der „Schwanensee“-Probe schauen seine Frau und sein Kind zu. Meine Tochter staunt: Nur einen Meter vor seiner Nase schleudert der Fuß von Reilly Partnerin im Spitzenschuh an ihr vorbei. Reilly hält sie. „Was, der Jason Reilly tanzt den Prinz? Und wer passt dann auf das Kind auf, wenn seine Frau auch tanzt?“
Autorin: Alexandra Karabelas, erschienen auf: www.tanznetz.de, 12.03.2018
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