Verbundenheit fühlen, eine Gemeinschaft bilden, in der jeder sein Potenzial entwickeln darf und von den anderen gesehen wird, achtsam und liebevoll füreinander da sein – was die Agenden hoffnungsvoller Coaching-Angebote und Esoterik-Ratgeber füllt, um eine bessere Welt zu gestalten, gibt es, sinniert man plötzlich, jetzt und anders auch beim Stuttgarter Ballett. Denn der neue Ballettabend – Titel: „Begegnungen“ – bietet viel Stoff darüber nachzudenken, was Tanz dem Menschen alles zu vermitteln vermag, abseits des Erlebnisses grandios ausgeführter, technisch herausfordernder Choreografien. Erstmals werden das herausragende Opus Magnum „Dances at a Gathering“ des amerikanischen Choreografen Jerome Robbins aus dem Jahr 1969 auf die perlenden Klänge von Frédéric Chopin, einstudiert von Ben Huys, sowie John Crankos zauberhaft-kraftvolle Hommage „Initialen R.B.M.E.“ an seine damaligen Solisten Marciá Haydée, Birgit Keil, Richard Cragun, Egon Madsen und Heinz Clauss aus dem Jahr 1972 an einem Abend zusammen aufgeführt. Beide Werke zelebrieren episodenhaft das berührende Zusammentreffen von Menschen, die einander ansehen, gemeinsam tanzen, ohne sich eruptive, zeitgenössische Ausbrüche leisten zu müssen, in einem Zustand des gegenseitigen Vertrauens und getragen von großer Lebensfreude und Erdverbundenheit.
Die Arbeit der Tänzerinnen und Tänzer auf der Bühne ist dabei von so tiefer Hingabe und Leidenschaft an die Werke erfüllt, dass der Gedanke der Tanzwissenschaftlerin Gabriele Klein, wonach Tanz aus dem 20. Jahrhunderts immer auch zentrale Utopien des Menschen zu verkörpern vermag, hier das Ende von Vereinzelung, Gefahr und Bedrohung und der Beginn aufrichtigen Zusammenseins, im wahrsten Sinne des Wortes so konkret Gestalt annimmt, dass man den Glauben an Veränderung nicht aufgibt.
Insbesondere Adhonay Soares da Silva, Elisa Badenes, Jason Reilly, Alicia Amatrain, Friedemann Vogel und Moacir de Oliveira in den Titelpartien von „Initialen“ gestalten diese Choreografie zu einem beeindruckenden Reenactment baden-württembergischer Tanzgeschichte, deren Gegenwart sie selbst heute realisieren und in neuen Rollen fortschreiben. Das ist faszinierend.
Cranko hatte jeden der vier Sätze von Johannes Brahms „Klavierkonzert 2 B-Dur, op. 83“einem seiner Tänzer gewidmet. Jedem schuf er so, auf der Basis von dessen Persönlichkeit, Stärken und typischen Bewegungsfolgen, – hebungen und –idiomen in seinen Balletten ein Panorama, das jeweils von wundervollen Sequenzen des Corps de ballet begleitet wurde und sich kongenial mit den Persönlichkeiten der heutigen Solisten verband. Die kraftvolle und lebenszugewandte Präsenz eines Richard Cragun schimmert so ebenso durch wie die superbe Schönheit einer Birgit Keil, diRobbins „Dances at a Gathering“, ein zarter, eleganter, vor sich hin tupfender und spielender Reigen der unterschiedlichen Begegnungen, an dessen Ende alle zehn Tänzer mit sorgenvollem Blick in die Weite schauen, katapultiert in die mit Sorgen angefüllte Gegenwart.
Autorin: Alexandra Karabelas, erschienen am 15. Januar 2018 im SÜDKURIER und am 16. Januar 2018 beim Magazin DANCEFORYOU online.
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